Es war ein sonniger Montagmorgen, als ich meinem Arzt zu einem
Abschlussgespräch gegenübersaß. Ich hoffte auf ein Rezept, das gegen
meine in der letzten Zeit auftretenden, massiven Kopfschmerzen
wirksam wäre.
Mein Arzt jedoch rang mit seinen Worten. Er versuchte mir anhand des
CT-Bildes so schonend wie möglich beizubringen: »Es tut mir sehr leid,
Ihnen die schreckliche Diagnose mitteilen zu müssen. Sie haben einen
Hirntumor, der inoperabel ist. Ihre Lebenserwartung beträgt schätzungsweise
nur noch ein Jahr!« Alle weiteren Sätze, von möglichen
Behandlungsmethoden etc., hat mein Gehirn dann verständlicherweise
völlig ausgeblendet.
Ich flüchtete nach Hause, packte meine Sachen und schrieb meiner
Frau auf einen Zettel, dass ich dringend beruflich verreisen müsse.
Meine Reise führte zu der abgelegenen Alm meines Lieblingsonkels.
Ich wusste, wo der Schlüssel versteckt lag. Auf dem Weg dorthin ging
ich einkaufen und gönnte mir alle möglichen Delikatessen für die
nächsten Tage, denn wofür sollte ich nun noch sparen?
Am Berg angekommen ging es mir sofort wesentlich besser. Ich verstaute
meine Sachen, packte den Rucksack und bestieg den Berggipfel,
der einen herrlichen Ausblick über das Tal bot. Verzweifelt
versuchte ich, die Aussicht zu genießen, doch es gelang mir nicht,
denn mein Leben rauschte an mir vorüber. Ich fragte mich: Warum
gerade ich? Ich habe doch nie etwas Schlimmes gemacht, habe
gesund gelebt, war immer für andere da, stets hilfsbereit und fürsorglich.
War mit den Jungs gerne am Fußballplatz, habe meine Tochter zu ihren
Tennisspielen begleitet … Natürlich habe ich hart gearbeitet – sehr hart sogar,
denn ich wollte immer, dass es meiner Frau und den Kindern an nichts mangelt.
Bei meinen Überlegungen, was ich falsch gemacht haben könnte, fiel
mir auf, dass ich vorwiegend für meine Karriere und meine Familie gelebt
hatte. Wo war ich geblieben? Vieles, was ich noch erleben wollte,
sparte ich für die Zeit nach meinem Renteneintritt auf. Ja, zwei Jahre
hätte ich nun noch bis zum Rentenalter. Diese Zeit würde ich nicht
mehr erleben dürfen, geschweige das, was ich noch alles vorgehabt
hätte!
In den drei Tagen auf der Alm, das Handy war abgestellt, hatte ich viel
Zeit zum Nachdenken. So fasste ich den Entschluss, dass ich, solange
es ging, niemandem von meiner Diagnose erzählen würde.
Ich erstellte mir meine eigene Liste mit all den Dingen, die ich während
meines letzten Jahres noch erleben wollte. Da ich stets ein Realist
war, plante ich in die ersten Monate all die Aktivitäten ein, bei deren
Ausübung ich voraussichtlich noch einigermaßen körperlich aktiv sein
konnte.
Als Erstes teilte ich meinem Chef mit, dass ich künftig keine Überstunden
mehr machen und auch meine Arbeitszeit drastisch reduzieren würde.
Doch kam es statt des gefürchteten Donnerwetters zu einer Lösung
ganz in meinem Sinne. Mein Arbeitgeber war der Meinung, nachdem ich
so viele Jahre für die Firma mein Bestes gegeben und zu ihrer vollsten
Zufriedenheit gearbeitet hätte, sei meinem Wunsch stattzugeben.
Meiner Frau legte ich Reisebroschüren für die Toskana auf den Tisch.
Ich fragte, ob sie sich nächste Woche freinehmen könnte, um endlich
einmal die Städte zu erobern, die wir gemeinsam noch nie besucht
hatten. Sie war etwas irritiert und fragte: »Wie meinst du das? Ein Urlaub,
nur wir zwei? Keine geschäftlichen Kontakte und Meetings oder
ein Golfurlaub, wo du um acht Uhr auf der Driving Range stehen musst
und von wo du erst abends wieder zurückkehrst?«
Sichtlich beschämt antwortete ich: »Nein mein Schatz, ich denke, es
ist an der Zeit, wieder einen Urlaub nur für uns zu machen, wie in
früheren Jahren.«
Meine sämtlichen Ehrenämter und zeitraubenden Verpflichtungen gab
ich leichten Herzens ab. Ich konnte mittlerweile gar nicht mehr verstehen,
in welcher Welt ich überhaupt gelebt hatte. Getrieben von
Ehrgeiz, Verpflichtungen und vermeintlicher Verantwortung.
Die weiteren Monate vergingen wie im Flug und ich genoss jeden
Tag und jede Stunde. Ich bedauerte sehr, dass erst eine solch schreckliche
Diagnose dazu geführt hatte, dass ich endlich aufwachte und erkannte,
was das Leben wirklich ausmacht!
Da es mir gesundheitlich wesentlich besser ging, hegte sich in mir die leise Hoffnung,
dass mir vielleicht noch ein paar Monate mehr geschenkt würden. So saß ich nach einem
knappen Jahr wieder meinem Arzt gegenüber.
Wieder rang dieser mit seinen Worten: »Es ist mir unerklärlich, wie dies geschehen konnte!
Ihr CT-Bild wurde damals vertauscht und erst jetzt habe ich diesen unverzeihlichen Fehler
bemerkt. Sie sind kerngesund, wenn ich das so sagen darf.«
Nicht nur für mich erwies sich die vertauschte Diagnose als Glücksfall.
Wenige Wochen später stand ein Mann mit Kopfverband vor meiner
Türe. Er stellte sich mir vor und erklärte sich: »Dank des vertauschten
ärztlichen Befunds sonnte ich mich in der Gewissheit, gesund zu sein.
Wie durch ein Wunder hat sich mein Tumor in der Zwischenzeit verkapselt
und konnte nun komplett entfernt werden.«
Seither gehe ich mit diesem Mann jede Woche auf den Golfplatz und
ständig philosophieren wir, wie wunderschön doch das Leben ist!
© Gisela Rieger; aus dem Buch: „111 Herzensweisheiten“ ISBN: 978-3-9819881-0-9
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Seit ich denken kann, war mir mein Patenonkel ein großes Vorbild,
auch wenn er mich mit seiner Lebenseinstellung manchmal wahnsinnig machte. Der Mann war einfach der geborene Optimist. Er wusste stets Positives ...
Die Natur ist ein wunderbarer Lehrmeister und Heiler.
Ganz egal, welche Sorgen und Probleme dich bedrücken,
sie werden in ein anderes Licht gerückt.
Zitat: Gisela Rieger