In meiner Jugend war das Fußballspielen mein Lebensinhalt. Ich verbrachte
jede freie Stunde mit meinen Kumpels auf dem Bolzplatz.
Fast täglich sah ich am Rande des Platzes einen Jungen, der alleine mit
seinem Ball vor sich hin kickte.
Raphael war neu an der Schule und ging in meine Parallelklasse. Ich
mochte ihn nicht ansprechen. Was soll man auch zu einem Jungen sagen,
der keine Arme hat?
Bald darauf wurde ich zum neuen Kapitän der Schulmannschaft gewählt
und war mächtig stolz! Ich war ein richtig cooler Typ! Unter meiner Führung
siegten wir fast immer und die Mädchen scharten sich reihenweise
um mich!
Am Ende der Saison hatten wir ein äußerst wichtiges Spiel, von dem
unser Aufstieg in die nächste Liga abhing!
Doch an jenem ereignisreichen Tag mussten wir ohne Austauschspieler
ins Spiel gehen, da ein schlimmer Virus die Hälfte meiner Mannschaft
lahmgelegt hatte. Die Gegner sahen darin ihre Chance und setzten noch
dazu unseren besten Spieler außer Gefecht. Ich schaute hilflos in die
Zuschauermenge und entdeckte dort Raphael.
Ich hatte nichts mehr zu verlieren und so rief ich ihm zu: »Hey, Raphael,
kannst du uns aushelfen?«
Er warf sich unser Trikot über und kam zu uns auf das Spielfeld. Lag es
daran, dass unsere Gegner von dem Erscheinungsbild unseres neuen
Spielers irritiert waren oder an seiner genialen Spieltechnik? Ich weiß
es nicht. Wichtig war, dass wir gewonnen haben. Und nicht einfach nur
gewonnen, sondern mit einem sensationellen Ergebnis von 10:1!!!
Nach dem Spiel nahm ich Raphael in die Arme, um mich bei ihm zu
bedanken. Niemals werde ich diese Umarmung vergessen. Ich lernte,
dass Berührungen nicht von Körperteilen kommen, sondern von Herzen!
Von diesem Tag an entwickelte sich eine Freundschaft zwischen uns. Wir
gingen gemeinsam zum Fußball, ins Kino und auf Partys. Raphael blühte
immer mehr auf. Er wurde zum besten Spieler unserer Mannschaft.
Zum Schulabschluss sollte Raphael als Schülersprecher eine Rede halten.
Ich hätte nicht mit ihm tauschen wollen. Auf der Bühne vor Hunderten
von Menschen zu sprechen, das war echt nicht mein Ding.
Raphael bestieg sichtlich aufgeregt das Podium. Er begann seine Rede
und holte weit aus. Er erklärte den Zuhörern, dass er bereits ohne Arme
auf die Welt gekommen sei. Seine Eltern hatten ihn jedoch nie seinen
körperlichen Mangel spüren lassen und in seinem Heimatdorf hatte er
seinen festen Platz in der Gemeinschaft. Als jedoch seine Eltern bei
einem tragischen Autounfall ums Leben kamen, musste er zu seiner
Großmutter ziehen. Ganz alleine in der fremden Stadt, ohne Freunde,
kam er sich ziemlich verloren vor. Er schluckte kurz und sprach weiter:
»Das war die schlimmste Zeit meines Lebens. Ich sah keinerlei Sinn
mehr in meinem Dasein und überlegte schon, mir das Leben zu nehmen.
Doch das konnte ich meiner Großmutter nicht antun, die sich so rührend
um mich kümmerte und versuchte, mir Vater und Mutter zu ersetzen.«
Im Publikum vermeinte man, eine Nadel fallen zu hören.
Raphael lächelte mir dankbar zu und fuhr fort: »Die Lebensfreude kehrte
an jenem Tag wieder zu mir zurück, an dem mich mein bester Freund auf
das Fußballfeld rief.«
© Gisela Rieger; aus dem Buch "Geschichten die dein Herz berühren" ; ISBN 978-3-00-053788-2 (Wir nutzen die Geschichte mit freundlicher Genehmigung durch die Autorin. Danke!)
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Zitat: Guy de Maupassant, französischer Schriftsteller, 1850–1893