Es war einmal ein kleiner grauer Esel, der sich den ganzen Sommer lang
auf der Weide vergnügte. Seine Mutter war eine sehr angesehene und
hübsche Eselin.
Als der Winter seine ersten Zeichen setzte und dicke Schneeflocken vom
Himmel herabfielen, war das Eselein verzückt von der weißen Farbe, die
sein Fell bedeckte.
Ab diesem Tag beklagte sich der kleine Esel bei seiner Mutter, dass er
kein graues Geschöpf mehr sein wolle, sondern so weiß wie der Schnee.
Die Eselin erklärte ihrem Sohn, dass nun mal alle Esel grau wären. Er sei
sogar ein ganz besonders hübscher grauer Esel.
Doch den kleinen Esel konnten die Worte seiner Mutter nicht trösten und
er fühlte sich gar nicht verstanden.
Eines Tages zur Mittagszeit kam er an einer alten Mühle vorbei. Der Müller
lag im tiefen Schlaf versunken auf der Wiese. Da nützte der neugierige
Esel die Gelegenheit, um sich in der Mühle umzusehen. Er entdeckte
das viele weiße Mehl und wälzte sich darin, ohne lange zu überlegen.
Über sein weißes Spiegelbild im Fensterglas war er so entzückt, dass er
überglücklich davonsprang.
Die Freude des kleinen Esels dauerte jedoch nicht lange an, denn ein
heftiger Regenschauer brach herab, sodass seine ursprüngliche Farbe
bald wieder zum Vorschein kam.
Kurze Zeit später sah der Esel einen Maler auf der Leiter, welcher ein
Haus mit weißer Farbe tünchte. Der Kleine rannte auf den Eimer zu, der
am Boden stand, gab diesem mit seinen Hufen einen Tritt und wälzte
sich vergnügt in der weißen Farbe. Bis der Maler laut fluchend von der
Leiter herunterkam, war der weiße Esel längst über alle Berge.
Nun endlich war der kleine Esel von ganzem Herzen froh.
Als Erstes besuchte er seinen Freund, das Lämmchen, um diesem seine
weiße Pracht zu zeigen. Doch dort wurde er zuerst gar nicht erkannt und
hinterher nur ausgelacht. »Du bist nur ein dummes Schaf und neidisch
auf mich!«, rief das Grautier und machte sich auf den Weg zu seinem
besten Freund, dem Zicklein.
Dieses warf sich vor Lachen auf den Boden und konnte gar nicht mehr
einhalten. »Was bist du nur für eine blöde Ziege!«, sprach das Eselein
und lief weiter.
Doch auch beim Kälbchen, beim Pony und bei all seinen Freunden erging
es ihm nicht anders.
Betrübt, mit hängendem Kopf, ging er nach Hause. Da schrie ihn seine
Mutter an: »Was willst du hier? Verschwinde aus meinem Stall!« Kleinlaut
entgegnete das Eselein: »Aber Mama, ich bin es doch, dein Sohn.«
Doch diese rief weiter: »Du Lügner, mach, dass du fortkommst, du bist
nicht mein Sohn. Dieser ist das wunderbarste Eselskind, das die Welt je
gesehen hat, und du bist nichts weiter als ein lächerliches Geschöpf!«
Da trottete das Eselein zum See und betrachtete sich im Spiegel des
Wassers. Plötzlich fühlte es sich in seinem gefärbten Fell nicht mehr
wohl und stieg in das kühle Nass, um mit viel Mühe und Not seine weiße
Farbe wieder abzuwaschen. Stunden später kehrte es halb erfroren in
seinem gewohnten Grau in den warmen Stall zurück.
Freudig wurde das Eselskind von seiner Mutter begrüßt: »Da bist du ja
endlich, mein Kind. Was für ein hübscher Junge du nur bist und was du
nur für ein dichtes, glänzendes Fell hast!«
Der Esel begann zu niesen und schmiegte sich ganz eng an seine Mama.
Von diesem Tag an wollte er nie wieder jemand anders sein als nur er
selbst!
© Gisela Rieger; aus dem Buch "Geschichten die dein Herz berühren" ; ISBN 978-3-00-053788-2 (Wir nutzen die Geschichte mit freundlicher Genehmigung durch die Autorin. Danke!)
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Zitat: Oscar Wilde, irischer Schriftsteller, 1854–1900